Sexualpädagogik in der Kita: Interview mit Josefine Barbaric

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Auch schon kleine Kinder interessieren sich für ihren Körper und Gefühle. Umso wichtiger ist es, solche Themen auch schon im Kindergarten aufzugreifen und damit einen Beitrag zur Identitätsentwicklung von Kindern zu leisten. Außerdem stärkt eine frühe Sexualpädagogik das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen und ist eine gute Missbrauchsprävention. Welche Voraussetzungen dafür erfüllt seien müssen, erklärt Josefine Barbaric im Kinderzeit–Interview.

 
Warum ist aus ihrer Sicht Sexualpädagogik auch schon im Kindergarten ein wichtiges Thema?

Um ein besseres Verständnis für die Gesamtheit des Themas zu schaffen, möchte ich erst einmal auf den Begriff „Sexualität“ eingehen. Der Begriff Sexualität stammt von dem lateinischen Wort Sexus ab. Das bedeutet erst einmal Geschlecht und bezieht sich auf das weibliche und männliche Geschlecht beim Menschen. Sexualität beschreibt wie Lust- und Fortpflanzungsfunktionen erlebt werden. Fortpflanzung ist ein elementar wichtiger Bestandteil unseres menschlichen Daseins vom ersten Atemzug an. Also etwas ganz Natürliches. Kinder spüren und erleben ihren Körper selbstverständlich auch, allerdings auf eine andere Art und Weise, als es Erwachsene tun. So hat die frühkindliche Sexualität nichts mit der Erwachsenen Sexualität zu tun. Weshalb das Thema Sexualpädagogik grade im Hinblick auf die körperliche Abgrenzung auch ein sehr wichtiges Thema darstellt. Wenn Kindern über einen natürlichen Zugang ermöglicht wird, sich über ihre Körper und Empfindungen bewusst zu werden und auszutauschen, dann kann man ihnen sehr gut begreiflich machen: Dein Körper gehört mit allem was dazu gehört Dir und nur Du darfst über ihn bestimmen. Damit helfen wir Kindern eine optimale Selbstempfindung aufbauen zu können.

 

Welche Aspekte der Sexualität beschäftigt die Kinder zwischen drei bis sechs Jahren?

Grundsätzlich möchte ich sagen, dass für Kinder in diesem Alter der eigene Körper mit allem was er zu bieten hat, unsagbar spannend ist. Kinder erkunden nicht nur die eigene individuelle körperliche Beschaffenheit mit viel Neugierde, sondern auch die damit einhergehenden Empfindungen und Reize. Diese werden wie selbstverständlich entdeckt und als wichtige Erfahrungen nachhaltig abgespeichert. Das ist natürlich, richtig und gut. Zudem fangen Kinder in diesem Alter an, wahrzunehmen, dass es sehr wohl körperliche Unterschiede gibt.

 

Wie kann eine altersgerechte Sexualpädagogik/Aufklärung im Kindergarten konkret aussehen?

Indem wir uns erlauben mit Kindern sensibel und doch klar über Körperlichkeit, Genitalien und Abgrenzung zu sprechen. Menschen haben Augen, Ohren, Arme. Jungen haben zudem einen Penis, so wie Mädchen eine Vulva haben. Alle Menschen haben einen After. Wie geht es ihnen jetzt damit? Aus meinem Tätigkeitsfeld als Referentin zum Thema Prävention gegen sexuelle Gewalt an Kindern weiß ich, dass es für viele erwachsene Menschen unschön und unangenehm ist, mit kleinen Menschen über Penis, Vulva und After zu sprechen. Doch die Frage ist warum? Es sind die äußeren sichtbaren Geschlechtsorgane, wie auch ganz natürliche Körperöffnungen, die genauso zu unseren Körpern gehören, wie Augen, Ohren und Arme. Eines ist jedoch klar hervorzuheben, die Bereitschaft zur Aufklärung hängt auch immer von der eigenen inneren Haltung zum Thema Sexualität ab. Weshalb ich mit meinen Seminarteilnehmer*innen hierauf in jedem Seminar und Workshop explizit eingehe. Wenn jemand grundsätzlich enorme Berührungsängste mit dem Thema Sexualität hat, kann er/sie kleine Menschen nicht natürlich aufklären. So ist es wichtig, dass wir Kindern hierfür einen geschützten und unverkrampften Rahmen anbieten. Will sagen, sollte sich das eine pädagogische Fachkraft, aus welchen Gründen auch immer, nicht zutrauen, ist das keinesfalls verwerflich. Ratsam jedoch ist, es jemanden zu überlassen, der die Fähigkeiten dafür mitbringt.

 

Wie wichtig ist die „Beschäftigung“ mit Themen wie Gefühle, Liebe, aber auch der eigene Körper für die Entwicklung eines gesunden Körperbildes und dem Kennen von eigenen Grenzen, aber auch Vorlieben?

Schauen Sie, je mehr wir uns mit unseren Emotionen beschäftigen, umso besser werden wir darin sie wahrzunehmen und zu deuten. Gute und schlechte Gefühle sind wichtig, um verstehen zu können, was wir brauchen und was wir nicht brauchen. Kinder stehen noch ganz am Anfang in ihrer Wahrnehmungswelt. Es braucht erst einmal Erfahrungen, und dazu sollten wir sie unbedingt ermutigen und einladen. Ohne Scham und eigenen inneren Blockarden. Nur dann wird es uns gelingen, ihnen dieses natürliche Körperverständnis mitzugeben, denn dann haben sie verstanden, dass alles an ihnen richtig und gut ist. Dann lernen sie mit schlechten und guten Gefühlen umzugehen. So wie es auch schlechte und gute Geheimnisse gibt und die die sich schlecht anfühlen, darf man auch weitersagen. Darauf baut der nächste wichtige Baustein die „Abgrenzung“ auf. Dein Körper gehört Dir – und mein Körper gehört mir. Und wenn Du mir zu Nahe kommst oder mir weh tust, dann darf ich mich wehren und laut Nein, lass das! sagen und dieses Nein muss akzeptiert werden. Die sogenannten „Doktor Spielchen“ sind hierfür übrigens eine willkommene Erfahrungsplattform für Kinder. Und ich empfehle, ohne Hysterie an dieses Thema heranzugehen. Wenn zwei etwa gleichaltrige Kinder sich im beiderseitigen Einvernehmen zurückziehen, um zu spielen und dabei aus einer kindlichen Neugierde heraus anfangen sich körperlich (nicht übergriffig) zu erkundigen, ist erst einmal noch alles im grünen Bereich. Ich denke da sind wir uns einig.

Sollte eines der beiden Kinder allerdings keine Lust mehr auf das Spiel haben, aus welchen Gründen auch immer, dann muss Schluss sein. So ist es von unsagbar großer Bedeutung, dass Kinder genau das lernen. Zum einen lernen, das was hier grade stattgefunden hat, ist erst einmal total in Ordnung. Des Weiteren ist es mein Recht NEIN sagen zu dürfen, wenn ich etwas nicht mehr möchte und anders herum, ein NEIN meines Gegenübers muss ich ebenso akzeptieren.  

 

Die Aufklärung soll Kinder stärken und ihnen helfen ihre Grenzen deutlicher zu formulieren. Ist damit Sexualpädagogik ein guter Weg zur Missbrauchsprävention?

Selbstverständlich, denn wir wissen, dass aufgeklärte Kinder seltener Opfer von sexueller Gewalt werden. Man weiß, dass sexuelle Gewalt an Kindern in über 80% im engsten sozialen und familiären Umfeld stattfindet. Kinder, die ein gut ausgeprägtes Selbstempfinden haben und laut NEIN sagen können, sind für Täter*innen, egal aus welchem Umfeld, schwer zu kontrollieren und damit unbequem und stellen ein großes Risiko dar. Kinder, die im Kindergarten durch gelungene Sexualpädagogik Aufklärung und auch Abgrenzung erlernen durften, verstehen, dass ihnen niemand ungewollt zu nahekommen darf. Sollte das dennoch passieren, so teilen sich diese Kinder unter Umständen schneller jemanden in der Einrichtung mit. Ein Fünftel der bei der Polizei registrierten Fälle zum Thema „sexueller Missbrauch an Kindern“ wird von Täter*innen im Alter von 14-18 Jahren verübt. Das erklärt vielleicht, warum es so wichtig ist, Aufklärung und Abgrenzung bereits sehr früh im Kindergarten zu installieren.

 

Sie geben regelmäßig Workshops für Erzieher*innen. Wie wichtig ist es sie nicht nur für die Fragen der Kinder, sondern auch für das Thema Missbrauch zu sensibilisieren?

Ich sehe meine Aufgaben in den Seminaren und Workshops in erster Linie darin, ein grundsätzliches Verständnis für das Thema „Sexuelle Gewalt an Kindern“ zu schaffen. Wenn pädagogische Fachkräfte, Erzieher*innen beispielsweise wissen, dass in jeder Schulklasse in Deutschland geschätzt 2-3 betroffene Kinder sitzen, dann verstehen sie selbstverständlich auch, wie wichtig die Sensibilität diesbezüglich ist. Diese Kinder waren zum Großteil vorher in Kinderkrippen und Kindergärten und unter Umständen in dieser Zeit schon Betroffene von sexueller Gewalt. In jedem Seminar oder Workshop habe ich mit Fachkräften zu tun, die ehrlich darüber berichten, dass es Verdachtsmomente bei bestimmten Kindern gab. In diesem Zusammenhang möchte ich noch eine persönliche Anmerkung machen, betroffene Kinder versuchen sich im Durchschnitt 7 oder 8 Mal mitzuteilen, bevor ihnen überhaupt jemand zuhört. Sie geben mir Recht, wenn ich sage, dass es bundesweit offensichtlich noch sehr viel mehr Sensibilität und Achtsamkeit in den Kindertageseinrichtungen braucht, um in akuten Verdachtsmomenten schneller und handlungssicherer vorgehen zu können.

 

Wie wichtig ist die Elternarbeit bei dem Thema „Sexualität“? Wie kann eine gute Zusammenarbeit zwischen Elternhaus und Pädagogen in Sachen Aufklärung aussehen?

Gute Prävention und Aufklärungsarbeit funktioniert nur als gemeinsames Projekt. Es sind im Grunde alle gefragt, die mit den Kindern zu tun haben. Ich empfehle den Einrichtungen grundsätzlich den Einstieg über eine Infoveranstaltung für Eltern zu nehmen. Eltern brauchen Informationen, um verstehen zu können, warum die Einrichtung sich dem Thema Sexualpädagogik und Aufklärung/Prävention widmen möchte. Das der Schutz der Kinder im Vordergrund zu sehen ist und die Kinder nicht manipulativ sexualisiert werden sollen. Meine Empfehlung an die Einrichtungen ist ein Leitbild zu entwerfen, welches das Thema Gewaltprävention im Allgemeinen und explizit darunter die Prävention gegen sexuelle Gewalt an Kindern aufgreift. Das Leitbild verdeutlicht den Sinn und Zweck der Einrichtung und gibt einen Rahmen für das tägliche Handeln vor. Die Mitarbeiter selbst bekommen eine Vorstellung von der Einrichtungsidentität, den Zielen und der Strategie der Einrichtung.

 

Warum sorgt Sexualpädagogik in Kindergärten und Grundschule immer noch für so viel Ablehnung?

Wie schon bereits erklärt, stelle ich immer wieder fest, dass Verunsicherung und Angst ablehnende Reaktionen begünstigen. Sowohl bei pädagogischen Fachkräften als auch bei Eltern. Es fühlt sich für viele erwachsene Menschen unangenehm an, mit kleinen Menschen auf eine ganz natürliche (nicht übergriffige) Art und Weise über Körperlichkeit und Genitalien zu sprechen. Man hat unter Umständen Angst davor, in der kindlichen Wahrnehmung etwas unwiderrufbar kaputt zu machen. Ich möchte die Menschen gerne ermutigen und einladen, offen und wertschätzend diesen wirklich spannenden Prozess ihrer oder auch anderer Kinder zu begleiten. Je natürlicher und respektvoller Sie das tun werden, desto natürlicher und respektvoller wird der Umgang mit dem eigenen kindlichen Selbst sein -sowie auch anderen gegenüber. Und ein letzter Hinweis: Schützen Sie Kinder durch Ihre eigene Offenheit. Machen Sie das Thema „sexuelle Gewalt“ nicht zu einem Tabuthema, damit helfen Sie betroffenen Kindern, sich anzuvertrauen.

 

Über Josefine Barbaric

Josefine Barbaric wurde am 13. Juni 1975 in Frankfurt am Main geboren. Es verbindet sie eine eigene und sehr persönliche Geschichte mit diesem schwierigen und sensiblen Thema "Sexuelle Gewalt". 2017 schrieb sie mit "Nein, lass das!" ein Aufklärungsbuch für Kinder und widmet sich seither dem Thema "Prävention gegen sexuelle Gewalt an Kindern". Sie ist nicht nur Autorin und Referentin, sondern zudem auch der Vorstand des gemeinnützigen Vereins Nein, lass das!

Über das Buch "Nein, lass das!"

Das Aufklärungsbuch gegen sexuelle Gewalt an Kindern ist als aktives Vorlesebuch für Kinder von 2-6 Jahren angedacht. 
Über eine leichte, kindgerechte und doch klare Art und Weise wird auf die Themen Körperlichkeit und Genitalien eingegangen. Zudem wird unseren kleinen Mitmenschen erklärt, wie sie sich zur Wehr setzen dürfen, wenn jemand etwas tun möchte, was sie nicht mögen. Dass es Kindern absolut erlaubt ist, NEIN sagen zu dürfen. Die Geschichte ist feinfühlig erzählt, zudem bunt und fröhlich illustriert, so dass man sie bedenkenlos vorlesen kann.
 
Paperback 12,90 inkl. MwSt. Nur im Direktvertrieb über bestellung@neinlassdas.com erhältlich!

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