Interview: Was macht Pippi Langstrumpf für heutige Kinder und Eltern aktuell?

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Sie kommt aus Wolfenbüttel bei Braunschweig, auch wenn ihr Name anderes vermuten lässt: Inger Lison ist 41 Jahre alt, ist verheiratet, hat zwei Kinder, ungefähr 1.000 Bücher – und wenn man etwas über Pippi Langstrumpf erfahren möchte, spricht man am besten mit ihr. Auf 425 Seiten hat Inger Lison das Erfolgsgeheimnis von Astrid Lindgren ergründet und dafür einen Doktortitel bekommen. Seit November 2019 leitet sie die deutsche Astrid-Lindgren-Datenbank.

 

Frau Lison, haben Sie jetzt lauter historische Werke und alte Briefe im Keller?

Inger Lison: Das wäre toll, aber die Datenbank ist rein virtuell. Sie geben dort ein Schlagwort ein und bekommen entsprechende Treffer angezeigt. Die Literatur müssen Sie sich dann schon noch selbst besorgen.

 

Ist Ihre Promotion auch gelistet?

Inger Lison: Ja, sonst wäre ich auch ein bisschen enttäuscht gewesen – und hätte sie schnell nachgetragen. (lacht)

 

Über Astrid Lindgren zu promovieren, ist vermutlich nicht alltäglich.

Inger Lison: Als ich meine Dissertation 2006 zu schreiben begann, hatte die Kinder- und Jugendliteratur innerhalb der Literaturwissenschaft noch einen ziemlich geringen Stellenwert. Eine Doktorarbeit über das Werk Goethes oder andere Hochliteratur zu verfassen, galt als wesentlich gehaltvoller. Gott sei Dank hat sich das im Laufe der Jahre geändert. Das Werk Lindgrens gilt mittlerweile als sehr gut erforscht. Durch die jüngst erschienenen Kriegstagebücher und Briefwechsel der Autorin ergeben sich nun weitere Forschungsaspekte.

 

Erinnern Sie sich an Ihr erstes Astrid-Lindgren-Buch?

Inger Lison: Ich weiß es nicht mehr. Die meisten Abnutzungsspuren im Bücherregal hat Pippi Langstrumpf. Vermutlich war es das.

 

Welcher Typ sind Sie denn so? Annika, Pippi, Tommy?

Inger Lison: Annika war mir zu ängstlich, Tommy etwas mutiger. Pippihätte ich gern als Freundin gehabt, wäre aber ungern sie selbst gewesen. Vielleicht bin ich eine Mischung aus Tommy und Pippi Langstrumpf.

 

Hat Sie Pippi Langstrumpf geprägt?

Inger Lison: Ich habe durch sie gelernt, Erwachsene zu hinterfragen. Und mutig zu sein.

 
Was macht den Erfolg von Astrid Lindgren aus?

Inger Lison: Ich bin immer wieder beeindruckt, wie kinderaffin sie geschrieben hat. Auch meine geheimsten Wünsche und Träume als Kind kannte sie – und hat diese literarisch dargeboten. Ihre Wertschätzung Kindern gegenüber imponiert mir.

 

Welches Bild haben wir heute von Astrid Lindgren?

Inger Lison: Am Anfang ihrer Karriere wurde ein Bild von ihr gezeichnet, das zumeist einseitig war. Da ging es vor allem um ihre Bullerbü-Kindheit. Durch die Neuerscheinungen der vergangenen Jahre, etwa die Kriegstagebücher und die Briefwechsel mit Louise Hartung und Sara Schwardt, wird das Bild umfassender und differenzierter. Sie hat als sehr junge Frau ein uneheliches Kind bekommen und arbeitete während des Weltkriegs in der Briefzensur – auch Astrid Lindgren hatte schwere Zeiten.

 

Überhöhen wir sie?

Inger Lison: Nein, das glaube ich nicht. Sie hat unglaublich viel für die Kinder- und Jugendliteratur getan. So waren etwa Kriminalromane als Trivialliteratur lange Zeit verpönt. Bis Astrid Lindgren kam und dieses Genre mit Kalle Blomquist gesellschaftsfähig machte. Sie hat auch mitgeholfen, dass fantastische Literatur bei uns Fuß fassen konnte. Sie hat immer mit Konventionen gebrochen und sich nicht darum geschert, was gerade angesagt war.

 

Warum kam und kommt Astrid Lindgren bei Kindern so gut an?

Inger Lison: Sie hat eine Erzählweise, die Kinder sehr anspricht. Eines ihrer Lieblingszitate stammt von Arthur Schopenhauer, und das erklärt es vielleicht ganz gut: "Man gebrauche gewöhnliche Worte und sage ungewöhnliche Dinge." Astrid Lindgren erklärt selbst sehr schwierige Themen wie den Tod so, dass Kinder es verstehen.

 

Ist Pippi Langstrumpf heute noch aktuell?

Inger Lison: Ja, weil sich die Themen nicht verändert haben, die für Kinder wichtig sind. Es geht bei ihr um Freundschaft und Mut, sie ist das stärkste Mädchen der Welt – wer findet das nicht toll? Dass Pippis Welt ohne Digitalisierung auskommt, stört nicht.

 

Was unterscheidet Pippi Langstrumpf von anderen Figuren?

Inger Lison: Sie war das erste Mädchen, das sein durfte wie ein Junge, wie Huckleberry Finn oder Tom Sawyer. So etwas hat es davor nicht gegeben. Heutzutage kann man trotz aller Emanzipation in vielen Bereichen eine „Rolle rückwärts“ beobachten. Es gibt wieder Kinderliteratur, die Stereotypen bedient. Es gibt rosa Überraschungs-Eier für Mädchen und sogar unterschiedliches Wasser für Mädchen und Jungen.

 

Lesen Sie persönlich heute noch Kinder- und Jugendbücher?

Inger Lison:  Ich brauche im Grunde keine Erwachsenenliteratur, außer für Forschungszwecke. Wenn ich ehrlich bin, greife ich auch in meiner Freizeit lieber zur Kinderund Jugendliteratur.

 

Abends unter der Bettdecke?

Inger Lison: Nee, abends im Bett höre ich ‚Drei Fragezeichen‘. Sie etwa nicht?

 

Über Inger Lison

Die Literaturwissenschaftlerin Dr. Inger Lison unterrichtet an der Uni Hannover Lehramtsstudenten. Ihr Lieblingssatz von Astrid Lindgren stammt aus „Die Brüder Löwenherz“: „Es gibt Sachen, die man tun muss, sonst ist man kein Mensch, sondern nur ein Häuflein Dreck.“ „Auch mal die eigene Komfortzone zu verlassen, etwas zu wagen – das ist mein Lebensmotto.“ Ihr nächstes potenzielles Wagnis: Ins schwedische Astrid-Lindgren-Archiv abtauchen für ein neues Forschungsprojekt.

 

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