2012

Praxis

Richtig gut vorlesen

Kleinkinder und Kindergartenkinder genießen es, vorgelesen zu bekommen und haben großen Spaß an Büchern, noch bevor sie selbst lesen können. Mit bunten Büchern und spannenden Geschichten können Eltern und ErzieherInnen kleine Kinder schon früh fürs Lesen begeistern und ihr Leseverhalten nachhaltig prägen.

Die Lesefreude beginnt im Elternhaus
Dass Kinder mehr lesen müssen, wissen wir spätestens seit PISA. Den Jugendlichen in unserem Land ist im internationalen Vergleich eine unterdurchschnittliche Lesekompetenz bescheinigt worden. Texte können fächerübergreifend nicht richtig gelesen und verstanden werden. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken ist es heute wichtiger denn je, den Kindern die Lust am Lesen schon möglichst früh zu vermitteln.

Alle Kinder lesen gerne
Die Freude am Lesen wecken Eltern am leichtesten durch das Vorlesen. So wie die Mutter von Lilli. Sie liest am Abend Lilli das erste Kapitel des neuen Buches vor. Es ist spannend, vor allem für Lilli. Sie liebt Tiere und besonders Pferde. Aufgeregt folgt sie deshalb den Worten der Mutter, wenn diese von den Abenteuern vorliest, die Tine und Nina mit den Pferden erleben. Alle Kinder lieben Geschichten. Genauso gerne wie sie selber welche erfinden, hören sie auch den Geschichten anderer zu. Beachtet man einige Regeln, kann man Kinder leicht für das Vorlesen begeistern.  

Eine gemütliche Atmosphäre schaffen
Zunächst ist es wichtig, die richtige Atmosphäre zu schaffen. Lesestunden sollten gemütlich sein. Lilli kuschelt sich gerne in Mamas Arm, während die Mutter in einem bequemen Sessel sitzt. Beide könnten aber auch auf dem Sofa sitzen oder im Bett liegen. Die Wahl des Platzes ist den Vorlieben von Vorleser und Zuhörer überlassen. Nur bequem muss es sein! Lesen soll schließlich Spaß machen und nie als Pflichtübung verstanden werden. Förderlich ist auch eine gemütlich eingerichtete Bücherecke mit altersgerechten Büchern, die den Interessen des Kindes entgegenkommen. Hier lassen sich schöne Lesestunden verbringen. Die Lesefreude, die die Kinder an einem solchen Ort ihrer Kindheit entfalten hält meist ein Leben lang an.  

Auch der Inhalt ist entscheidend
Wichtig ist natürlich auch die Wahl des Buches. Die Geschichte muss dem Kind gefallen. Am besten beteiligt sich das Kind bei der Buchauswahl – es kann sich so besser mit den Darstellern identifizieren und hört interessierter zu. Gut ist es wie die Mutter von Lilli mit dem Kind in den Buchladen oder in die Bücherei zu gehen. Dies könnte zu einer schönen Gewohnheit von Eltern und Kindern werden.  

Mit der Gutenachtgeschichte fängt es an
Nach wie vor ist die Gutenachtgeschichte der beste Einstieg für Kinder, die Welt von Wörtern, Texten und Geschichten kennenzulernen. Wenn die Kinder schon lesen können, so wie Lilli, kann man sich mit dem Vorlesen auch abwechseln. Auf keinen Fall aber sollte man die Geduld verlieren. Kinder lesen oft langsamer als Erwachsene. Sie müssen merken, dass die Eltern stolz auf sie sind, wenn sie die Lust nicht verlieren sollen. Schön sind auch regelmäßig stattfindende Familienleseabende, bei denen abwechselnd vorgelesen wird. Im Grunde kann man Kindern alles vorlesen, wichtig ist nur, dass es das Kind interessiert! Ein aufregendes Erlebnis für Kinder in jedem Alter ist auch der Besuch öffentlicher Lesungen. Der persönliche Bezug zu einem „leibhaftigen“ Kinderbuchautor kann das Leseinteresse steigern. Die meisten örtlichen Bibliotheken bieten daher regelmäßig Autorenlesungen an.
 
Vorlesen, aber richtig!
Auch beim Vorlesen sollte man einige kleine Regeln beachten, um das Interesse der Kinder dauerhaft auf sich und das Buch zu lenken. Wichtig ist es langsam zu lesen, die Wörter deutlich auszusprechen und die Lautstärke beim Vorlesen zu wechseln. Spannende Inhalte spricht man am besten leise, fröhliche laut und heiter. Gut ist es auch, seine Stimme den Figuren anzupassen. Ein Häschen spricht anders als ein Löwe oder ein Elefant. Wenn man dies vor dem Vorlesen einübt, klappt es besser und erzeugt beim Vorlesen mit der entsprechenden Mimik und Gestik die richtige Spannung. Baut man an den passenden Stellen dann noch kurze Pausen ein und zögert die Auflösung etwas hinaus, ist die Lesefreude perfekt.  

Fragen sind erlaubt

„Warum sind die Pferde weggelaufen?“ will Lilli von ihrer Mutter wissen. „Sie haben sich vor dem vorbeifahrenden Auto erschreckt“, erklärt sie. Kinder unterbrechen das Vorlesen immer wieder durch Fragen. Sie vollziehen auf diese Weise das Gesagte nach und lernen dabei. Dies ist typisch und durchzieht das ganze Vorlesen. Darauf sollte man nicht genervt reagieren. Besser ist es, mit den Fragen zu rechnen oder sogar selbst dem Kind ab und zu Fragen zu der Geschichte zu stellen. So werden die Kinder aktiv am Geschehen beteiligt. Manchmal ergeben sich daraus auch sehr spannende Gespräche. Gefällt einem Kind die Fragerei nicht, sollte man es lieber lassen, da es sonst die Lust verliert.  

Morgen geht es weiter

Vorlesen soll vor allem Spaß machen. Nach dem Vorlesen kann man sich noch etwas Zeit nehmen, um über das Gelesene zu sprechen. In Ruhe lassen sich die Zusammenhänge noch einmal klären und Vater oder Mutter kann nachhorchen, ob alles verstanden wurde.   Geschickt ist es auch, an besonders spannenden Stellen des Buches aufzuhören und die Fortsetzung am nächsten Abend weiterzulesen. So kann sich das Kind den ganzen Tag auf die gemütliche Lesestunde am Abend freuen.


Praxis

Märchen zum Ausdrucken und Vorlesen

"Es war einmal..." - eine Geschichten-Sammlung mit vielen Gute-Nacht-Geschichten für Kinder. Märchen zum Vorlesen und Nacherzählen, zum Beispiel von den Gebrüdern Grimm (Märchen wie Rotkäppchen, Froschkönig, Rapunzel und Aschenputtel), sowie unbekannte und alte Märchen. Außerdem viele Fabeln und Vorlese-Geschichten.

Suche nach einem Kinder-Märchen oder einer Geschichte
Um für  Kinder Märchen oder Geschichten zu suchen, können Sie mit dieser Märchensuchmaschine beliebig viele der vorgegebenen Suchkriterien ausfüllen und so Ihre Suche nach einem Märchen, einer Fabel oder Gute-Nacht-Geschichte eingrenzen.

Den Märchen- oder Geschichten-Titel unter "Suchbegriff" eintragen
Eine Kategorie aussuchen (zum Beispiel "Weihnachtsgeschichten") oder
einfach die Liste der Kinder-Märchen und Geschichten für Kinder durchsehen. 

Die Märchensuchmaschine starten unter http://www.familie.de/maerchen/
Dort finden Sie auch zahlreiche Märchen in der Übersicht.


Praxis

Märchenkinder: Warum Märchen wichtig sind

Märchen sind nicht gleich Märchen, wie man am Beispiel des “Struwwelpeter“ unschwer erkennen kann. Entsprechend heißt es für alle, die Kindern Märchen erzählen oder vorlesen möchten, nicht einfach nur einen Band der schönsten gesammelten Werke zur Hand zu nehmen, sondern bereits im Vorfeld einige Überlegungen und Vorkehrungen zu treffen, um das Erlebnis des Märchenerzählens zu einem ganz besonderen werden zu lassen.

Kindermärchen und Märchenkinder
Um in die Märchenwelt eintauchen zu können, sollte ein Kind das entsprechende Alter haben. Und dieses Alter hat es in etwa, wenn es sein 4. Lebensjahr erreicht hat. Doch auch dann heißt es, die Märchen sorgsam auszuwählen: in Bezug auf ihren Inhalt und in Bezug auf ihre Form.

Inhaltlich sollten die erzählten oder vorgelesenen Märchen ganz klar ein positives Ende haben und dem Gut-Böse-Prinzip folgen. Denn genau mit diesem setzen sich Kinder in dieser moralischen Phase ihrer Entwicklung auseinander. Deswegen ist der Philipp aus dem Kindergarten heute auch noch so gemein und überhaupt der gemeinste Junge der ganzen Welt, morgen aber schon wieder der allerbeste Freund, den man sich nur wünschen kann. Das kindliche Denken ist also gerade in jungen Jahren ebenso schwarz-weiß wie die Einteilung der Märchenwelt.

Formal sollten die ersten Märchen des Weiteren auf jeden Fall nicht nur kurz genug sein, so dass das Kind ihnen komplett in einem durch folgen kann, sondern auch nur einen einzigen Erzählstrang aufweisen. Dieser einzelne Erzählstrang garantiert, dass die unheimliche, traurige, ungerechte oder trostlose Situation, die zu Beginn des Märchens existiert oder entsteht, sich am Ende zum Guten gewendet hat.

Dieser Zusammenhang, diese Auflösung ist das A und O der Wirkung und der Nachhaltigkeit von kindgerechten Märchen. Und genau deshalb sollten sie auch immer an einem Stück erzählt oder vorgelesen werden. Das heißt nicht, dass das Kind nicht dazwischenfragen oder eigene Überlegungen einstreuen darf, es bedeutet nur, dass der positive Ausgang nicht als Erzählung auf den nächsten Tag verschoben wird. Denn damit lässt man die Kinder allein und verloren in ihrer Fantasiewelt zurück.

Erst, wenn das Kind ein wenig älter und mit den ersten Märchen auch schon vertraut ist, kann man auf komplexere Märchen ausweichen, die a) mehr als nur einen Erzählstrang haben und b) dann natürlich auch über mehrere Tage hinweg erzählt oder vorgelesen werden können.

Deshalb gilt: Eltern sollten die Wahl des jeweiligen Märchens, das sie vorlesen oder erzählen möchten, schon im Vorfeld treffen und dieses entsprechend zumindest schon einmal für sich selbst in Ruhe gelesen haben.

Frühling, Sommer, Herbst und Winter
Da Kinder durch Märchen dort abgeholt werden, wo sie sich seelisch und emotional in ihrer Entwicklung befinden, kann die passende Auswahl des Märchens diesen Effekt zusätzlich stärken und gleichermaßen die Problemlösung der magischen Welt als Anreiz und Ermutigung zur Problemlösung in der realen Welt geben.

So wenig wie Weihnachtsgeschichten also im Sommer vorgelesen werden, so wenig sollten klirrend-kalte Wintermärchen in zauberhaft-warme Frühlings-Abende gelegt werden. Die Märchen sollten sowohl zur Jahreszeit, im besten Fall jedoch auch, wie oben bereits angedeutet, zur Stimmung des Kindes passen.

Findet dieses beispielsweise im Kindergarten oder auch generell schwer Anschluss können Märchen über Mut, über Aufeinander-Zugehen oder über Freundschaften dem Kind helfen, eine eigene Lösung für die reale Situation, in der es sich befindet, zu entdecken. 

Kinder denken in Bildern – magisch und zauberhaft
Kinder, insbesondere Vorschul- und Grundschulkinder, betrachten die Welt mit ganz anderen Augen als wir Erwachsene sie sehen. Ein einfacher großer Pappkarton beispielsweise ist für sie alles, aber kein einfacher Pappkarton. Er ist Piratenschiff, Ritterburg, Drachenhöhle, Märchenschloss, Puppenstube und vieles andere mehr. Niemals aber ist er nur ein einfacher Karton aus Pappe. Denn im Gegensatz zu uns Erwachsenen, die gelernt haben, dass die Dinge sind, was sie sind, die erfahren haben, was möglich ist und was nicht, kennt das Kinderdenken noch keine Grenzen. Für Kinder ist alles vorstellbar und somit auch alles möglich. Kinder erwarten sozusagen das Unerwartete. Entwicklungspsychologen beschreiben dieses kindliche Denken deshalb auch als “magisches Denken“ oder “zauberhaftes Denken“.

Magisches Denken braucht magische Anregung
Märchen-Gegner betonen immer wieder, dass sie ihren Kindern auch deshalb keine Märchen erzählen oder vorlesen, weil sie auf gar keinen Fall möchten, dass ihr Kind später nur noch in Schwarz-Weiß-Kategorien denkt. Die Welt also strikt einteilt in “Gut und Böse“, in “Schön und Hässlich“, in “Arm und Reich“, in “Mutig oder Feige“. Aber diese vergessen, dass auch das kindliche Denken sich erst entwickeln und unterschiedliche Farben und Facetten erkennen lernen muss. Ja, Märchen sind Schwarz-Weiß. Dem kann niemand widersprechen. Aber das kindliche Denken ist nicht anders – vor allem nicht im Alter von Kindergarten- und Vorschulkindern. Gerade in diesem Alter brauchen Kinder das Schwarz-Weiße, um sich orientieren zu können. Alle anderen Farben des sozialen Gefüges bilden sich erst sehr viel später aus. Ganz gleich, ob mit oder ohne Märchen. Was aber Märchen für dieses Alter so wichtig macht, ist, dass sich Kinder genau auf Grund des Schwarz-Weiß-Denkens mit den Märchenfiguren, ihren Erlebnissen und der Welt, in der sich die Figuren zurechtfinden müssen, so gut identifizieren können. Auch wenn es sich dabei um eine Welt oder eine Gesellschaft handelt, die in dieser Form heute gar nicht mehr existiert.

Märchenhafter Freiraum für die eigene Fantasie
Bekommen Kinder ein Märchen vorgelesen oder erzählt, hören sie es nicht nur, sie sehen, spüren und erleben, was passiert. Denn die von vielen Erwachsenen verachtete und oftmals als veraltet oder antiquiert bezeichnete Märchensprache löst genau das aus, was Kinder in diesem Alter brauchen: Märchenhaften Freiraum für die eigene Fantasie. Die veraltete oder antiquierte Sprache schadet ihnen dabei ganz bestimmt nicht, im Gegenteil: Sie fördert gleichermaßen das kindliche Sprachvermögen, seinen Wissensdurst und seinen Entdeckerdrang. Und: Sie gibt dem Kind Sicherheit. Denn mit der märchenhaften Formulierung “Es war einmal“ können sie sich entspannt auf eine blühende Reise ihrer Fantasie begeben. “Es war einmal“, die veralteten Sprachwendungen und eine Gesellschaft, die es heute nicht mehr gibt, nehmen das Kind zwar mit auf eine Reise, die ihm helfen, sich in der Welt zurechtzufinden, ohne es dabei in Angst und Schrecken zu versetzen, dass die Märchenwelt mit der realen Welt identisch ist. Denn die Märchensprache ist wie der eingangs erwähnte Pappkarton: Einfach, aber bildhaft und symbolisch. Für Mama oder Papa nur ein Pappkarton, für das Kind selbst all das, was es möchte, dass der Pappkarton ist. Die Märchensprache gibt dem Kind also nur das absolut Notwendigste mit, damit es seine Fantasie frei entfalten kann und überfrachtet es nicht mit vorgefertigten Bildern, die keinerlei Fantasie oder Vorstellungsvermögen mehr erforderlich machen oder zulassen. Und genau das schafft leider kein anderes Kinderbuch, kein Comic, keine Zeichentrickserie – und auch keine Märchenverfilmung.

Magische Handlungsanleitungen für das reale Leben
Jedes der klassischen Märchen beruht auf einer Überlieferung, die seit Jahrhunderten von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Aus diesem Grund kann man Märchen auch als in Bilder übersetzte Lebenserfahrungen bezeichnen. Und auch, wenn wir uns mittlerweile im 21. Jahrhundert befinden, die Fragen, die sich unsere Kinder stellen, haben sich nicht geändert. Und damit auch nicht die Antworten. Was in vergangenen Jahrhunderten vielleicht die Angst vor langen Schatten im Wald war, ist heute vielleicht die Nacht erhellende Leuchtreklame, die Schatten ins Kinderzimmer wirft. Auch Kinder kennen Ängste, die uns noch nicht einmal bewusst sind. Und sie sind uns oftmals deshalb nicht bewusst, weil Kindern für das, was sie fühlen und erleben oftmals die Sprache oder eben das passende Bild fehlt, mit dem sie es vergleichen können. Und auch hier helfen Märchen. Denn jedes einzelne von ihnen schildert eine bestimmte Situation, in der sich der spätere Held des Märchens zu Anfang der Geschichte befindet. Eine Situation, die es zu meistern gilt. Und vor allem eine, die der kleine Held am Ende des Märchens auch gemeistert haben wird. Denn in Märchen wird – und das ist ebenfalls ein wichtiger, wenn nicht sogar der wichtigste Punkt für das kindliche Denken – am Ende immer alles gut. Aus diesem Grund identifizieren sich die kleinen Zuhörer auch meistens mit der Heldenfigur, die zu Beginn des Märchens allerdings noch weit davon entfernt ist, ein Held zu sein. Denn ganz gleich, was das Kind gerade in seinem Inneren beschäftigt, womit es sich auseinandersetzen muss: Die Beispiele in den Märchen zeigen ihm, dass sich immer eine Lösungsmöglichkeit findet, wenn man nur die Verantwortung dafür übernimmt und nach ihr sucht. Und genau das macht Kinder stark, selbstbewusst und gibt ihnen das Gefühl von Sicherheit und Ur-Vertrauen. Bruno Bettelheim geht deshalb davon aus, dass Märchen die Kinder genau dort abholen, wo sie sich gerade seelisch und emotional in ihrer Entwicklung befinden. Wesentlich intensiver, handlungsorientierter und wirkungsvoller als jedes andere Kinderbuch das könnte. Oder wie schon Friedrich Schiller gesagt hat: „Tiefere Bedeutung liegt in den Märchen meiner Kinderjahre als in der Wahrheit, die das Leben lehrt."


Praxis

Das Märchen ABC

Für den pädagogischen Umgang mit Märchen – sei es für zuhause, im Kindergarten, in der Grundschule oder für weiterführende Schulen - gibt es hier viel Wissenswertes.

A wie Aschenputtel
Das kleine unscheinbare Mädchen Aschenputtel, bei Ludwig Bechstein heißt es Aschenbrödel, ist eine Märchenfigur, die in ganz Europa bekannt ist. Noch bevor die Gebrüder Grimm das Märchen aufschrieben (KHM 21), erzählte Charles Perrault eine französische Variante, die schon 1697 veröffentlicht wurde. Das arme Mädchen steht ganz unter der Fuchtel seiner bösen Stiefmutter, die ihre zwei leiblichen Töchter stark bevorzugt. Am Ende des Märchens geht für die Märchenheldin dank der Hilfe von zwei hilfreichen Tauben (Magische Helfer) alles gut aus: Das schöne Mädchen wird zur Prinzessin, die beiden Stiefschwestern gehen trotz der Verstümmelungen, die sie sich an ihren Füßen zugefügt haben, leer aus. 

B wie Brunnen
Der Brunnen gilt mit seinem dunklen langen Schacht als ein Symbol für die „vorbewusste Kultur“. Manchmal ist er der Eingang zum Reich des Todes (Quelle) und der Nacht. Es gibt auch Märchenforscher, die mit der Darstellung des Brunnens den Geburtskanal der Frau assoziieren. Ob und inwiefern diese Symbolik hilfreich ist für die Entschlüsselung dieses Märchenmotivs, bleibt dem jeweiligen Interpreten selbst überlassen.

C wie Christliche Symbole
In den meisten Teilen Europas dominiert trotz aller Säkularisierung seit über 1000 Jahren die christliche Kultur. Einige unserer Märchenstoffe sind sicherlich noch älter, aber die Märchen haben sich im Laufe der Zeit verändert und sich den kulturellen Begebenheiten angepasst. Die von Christen vor allem im 17. und 18. Jahrhundert so grausam verfolgten „Hexen“ zählen zu den typischen Märchenfiguren, obwohl sie ein Inbegriff des Heidnischen sind. Dennoch finden sich immer wieder christliche Symbole in vielen Märchen und auch christliche Tugenden werden oft eingefordert. Dem Aschenputtel sagte seine sterbende Mutter am Anfang der Geschichte: „Liebes Kind, bleib fromm und gut, so wird dir der liebe Gott immer beistehen, und ich will vom Himmel auf dich herabblicken und will um dich sein.“ Und tatsächlich war es fromm und erntete dafür seine Belohnung. Auch die Zahlensymbolik im Märchen weist Parallelen zur biblischen Zahlensymbolik auf.

D wie Dornröschen
Das Dornröschen (KHM 50) ist eine Prinzessin, auf der ein Fluch liegt. Die dreizehnte Fee, die bei seiner Geburt nicht zur Tauffeier eingeladen war, hatte dies veranlasst. Sobald es sich an einer Spindel stechen würde, sollte es sterben. Die anderen geladenen Feen wandelten diesen Todesfluch um in einen hundertjährigen Schlaf. Tatsächlich stach sie sich, als sie fünfzehn war, an einer Spindel, und der ganze Hofstaat schlummerte mit ihr ein. Eine riesige Dornenhecke legte sich um das Schloss und erst hundert Jahre später gelang es einem Prinzen, das Dornröschen wach zu küssen: Ein Beispiel dafür, wie die Liebe eines Mannes die geliebte Prinzessin zu erlösen vermag.

E wie Erzähler(in)
Die eigentlich wichtigste Figur im Märchen ist die Erzählerin oder der Erzähler. Das Märchen war ursprünglich eine Gattung, die ausschließlich erzählt wurde, denn es gibt Märchen aller Wahrscheinlichkeit nach schon viel länger als die Schriftsprache, die vor ungefähr dreieinhalbtausend Jahren entwickelt wurde. Der Erzähler ist der, der das Märchen immer wieder zu neuem Leben erweckt. Dadurch veränderten sich jedoch auch die Märchen. Die Erzähler schmückten bestimmte Handlungsstellen aus, veränderten Details und manchmal ganze Handlungsstränge und passten die Geschichte ihrer Zeit und ihren Zuhörern an. Bei den verschiedenen Märchenausgaben der Grimms (Gebrüder Grimm) lässt sich zeigen, dass auch sie Märchen verändert haben (z.B. Rumpelstilzchen). Seit ihrer Sammeltätigkeit ist die Märchenerzählkultur immer mehr zu einer Vorlesekultur geworden. Man muss das nicht bedauern, denn jedem steht es weiterhin frei, Märchenstoffe eigenständig zu erzählen, zu verändern oder völlig neu zu gestalten.

F wie Fee
Was wären Märchen ohne die zumeist guten Feen? Feen sind weibliche Zauberwesen, die speziell im französischen Märchen meist die Aufgabe haben, das Leben mit Schönheit und Liebe zu erfüllen und für ein gutes Schicksal zu sorgen. Doch Vorsicht: Vergessen darf man nicht die dreizehnte Fee in Dornröschen. Manchmal können Feen also auch Unheil bringen. Leben sie im Wasser, dann nennen wir sie nicht Feen, sondern Nixen.

G wie Gebrüder Grimm
Wenn man das Wort „Märchen“ hört, denkt man völlig zu Recht fast immer sofort an die Gebrüder Grimm. Die beiden Hanauer Brüder Jacob Ludwig Karl und Wilhelm Karl sammelten seit 1807 Märchen und veröffentlichten ab 1812 die berühmten „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM). Die Märchen, die bis dahin meist nur mündlich weitergegeben und erzählt wurden, gab es von nun an in gedruckter Fassung und haben sich zu einem absoluten Bestseller entwickelt. Daher verdanken wir den Grimms, die zu den Begründern der Germanistik und der Märchenwissenschaften zählen, viele wunderbare Märchenstoffe, die ohne sie vielleicht verloren gegangen wären. Auf der anderen Seite hat sich durch sie die Märchenkultur auch sehr verändert: Märchen werden seither immer seltener erzählt und stattdessen eher vorgelesen (Erzähler).

H wie Hexe
Die Hexe ist im Märchen oft die böse Gegenspielerin. Sie ist meist ein altes Weib, das einsiedlerisch tief in einem Wald verborgen lebt, und mit grauslichen Sprüchen und Flüchen (Zaubersprüche) und geheimen Kräuterrezepturen magische Zaubertränke in einem Feuerkessel zubereitet. Oft hat sie die Aufgabe, den Märchenhelden zu prüfen. Gelingt es ihm, die Hexe zu besiegen, dann steht dem guten Ende nichts mehr im Wege. Ähnlich wie die Stiefmutter gilt die Hexe als die „Schattenseite“ der Mutter.

I wie Igel
Der Igel im Märchen „Der Hase und der Igel“ (KHM 187) ist eigentlich ein Betrüger. Nachdem der Hase sich über den Igel und seine krummen Beine lustig macht, fordert er ihn in der Buxtehuder Heide zu einem Wettrennen heraus. Beim Rennen läuft der Igel nur ein paar Schritte, im Ziel wartet nämlich schon ganz entspannt seine ihm zum Verwechseln ähnlich sehende Frau. Der Hase probiert es wieder und wieder gegen den vermeintlich schnelleren Igel zu laufen, bis er beim 74. Lauf tot zusammenbricht. Bemerkenswert an diesem Märchen ist nicht nur der dreiste Betrug des Igels, sondern auch, dass dies eines der selteneren Märchen ist, das einen lokalisierbaren Handlungsort hat. Dass es in Buxtehude spielt, geht auf Wilhelm Schröder (1808–1878) zurück, der dieses Märchen noch vor den Gebrüdern Grimm 1840 auf plattdeutsch veröffentlicht hat.

J wie Jäger
Das Revier des Jägers ist der Wald, der ein Schauplatz vieler Märchenerzählungen ist. Der Jäger tötet Tiere, aber mit Bedacht, und sorgt damit für die Ernährung der Menschen. Er ist das männliche, positive Gegenstück zur Hexe, die ebenfalls häufig im Wald zuhause ist. Für das Rotkäppchen und seine Großmutter ist er der Lebensretter, der den bösen Wolf tötet.

K wie Königreich
Märchen spielen fast immer in einer lang vergangenen, unbestimmten Zeit und häufig auch an nicht näher gekennzeichneten Orten. Oft spielen sie in einem Königreich, denn zu den typischen Märchenfiguren zählen Königin, König, Prinzessin und Prinz. Auch einfache Leute, die Untertanen, sind von großer Bedeutung. Meistens sind die Märchenhelden Menschen, die aus einem ärmlichen Milieu stammen, wie zum Beispiel Hänsel und Gretel, die Müllerstochter bei Rumpelstilzchen, Hans im Glück oder auch Aschenputtel. Prinzen und Prinzessinnen, die Stammhalter des Königreichs, spielen nicht selten auch als „Belohnung“ eine große Rolle, denn sie stehen für Schönheit, Reichtum und Macht. Das Reich mit seinen Ländereien, Wäldern und Dörfern wird im Märchen meist nur vage angedeutet. Eine der seltenen Ausnahmen ist ein Märchenreich mit dem Namen Lugabugien, über das Sie sich beim nächsten Buchstaben informieren können.

L wie Lugabugien
Lugabugien ist ein Märchenreich, von dem niemand so genau weiß, wo es liegt. Die Regierungsform dieses Landes ist überaus komplex. Es scheint dort mehrere Monarchien gleichzeitig zu geben, obwohl andere Reisende von einer „präsidialen Demokratie“ sprechen, bei der ein Präsident hinter unwissenden und machtlosen Königen die Fäden ganz im Sinne des Volkes zieht. So sehr die historischen und politischen Fakten Lugabugiens im Dunkeln liegen, so überraschend ist es doch, dass uns von dort eine Fülle von zauberhaften Märchen überliefert sind. Sie stammen aus der Feder des zeitgenössischen Märchendichters Christian Peitz und sind nachzulesen in „Der Märchenprinz im Märchenwald hört einen Schuss, der gar nicht knallt!“, „Eselsohr und Hahnenkamm“ und „Teelöffelmärchen“.

M wie Magische Helfer
Die magischen Helfer unterstützen den Märchenhelden bei der Bewältigung der ihm gestellten Aufgaben. Wann immer die Handlung eines Märchens in eine Sackgasse zu geraten droht, kann plötzlich ein kleiner magischer Helfer auftauchen, der einen entscheidenden Tipp hat oder mithilfe von Magie eine neue Handlungsoption herbeizaubert. Die sprechenden Tauben bei Aschenputtel helfen ihm immer wieder bis zu seiner Glückserfüllung. Auch die sieben Zwerge sind brave und treue Gefährten für Schneewittchen. Aber Vorsicht! Manch gutmütig erscheinender Helfer kann sich bisweilen auch als ein böser Widersacher entpuppen!

N wie Nacht
Meistens beginnen Märchen mit „Es war einmal…“ Wann genau es einmal war, bleibt im Dunkeln. So unbestimmt diese Zeitangabe ist, so wird doch oft genau erzählt, welcher Teil der Märchenhandlung tagsüber, und welcher nachts spielt. Nachts passieren oft die besonders geheimnisvollen Dinge. Das unerkannte Aschenputtel tanzt nachts mit dem Prinzen. Tief im Wald tanzt das Rumpelstilzchen des Nachts singend um sein Lagerfeuer. Besonders gruselig wird es, als die Geschwister Hänsel und Gretel sich nachts in einem tiefen, finsteren Wald verlaufen und auf die böse ®Hexe treffen. Wenn die Nacht die Märchenlandschaft ins Dunkle hüllt, dann ist also immer für Spannung gesorgt.

O wie Ohren
Wenn ein Märchenerzähler das Rotkäppchen (KHM 26) imitiert und fragt: „Großmutter, warum hast du so große Ohren?“, dann sind meistens auch die Ohren der kleinen Zuhörer ganz groß. Märchen sind dafür da, gehört zu werden. Fast alle Menschen, die Märchen kennen, und das sind fast alle Menschen, haben sie zuerst gehört. Wie damals zu den Zeiten, als Märchen noch eine reine Erzählgattung waren (Erzähler). Erst wenn man älter ist und das Lesen lernt, spielen die Augen eine zunehmend wichtigere Rolle. Aber die Ohren bleiben das dominante Sinnesorgan. Märchenhörspiele hören wir, die Bilder dazu entstehen ausschließlich in unserem Kopf. Übrigens gibt es ein sehr nettes Märchen aus Portugal, in dem auch die Ohren eine besondere Rolle spielen. Es heißt der „Prinz mit den Eselsohren“.

P wie Prinz und Prinzessin
Was wären Märchen ohne die schönen Prinzessinnen und die tüchtigen Prinzen? Diese Figuren bieten großes Identifikationspotenzial für kleine Zuhörerinnen und Zuhörer. Die Prinzenkinder haben fast immer ein reines Herz, sind Idealgestalten und stehen für die glückliche, sich erfüllende Liebe. Diese muss freilich vorher durch die Bewältigung von Aufgaben erst noch erworben werden. Manch psychoanalytisch orientierte Märcheninterpreten sehen in Anlehnung an Sigmund Freuds psychischen Apparat in der Bezeichnung Prinz/Prinzessin das „Ich“, im König das „Über-Ich“ (die Normen oder das Gewissen) und z.B. in der Hexe oder im Wolf das „Es“ (das Triebhafte).

Q wie Quelle
Die Quelle wird als Symbol für den gebärenden Mutterschoß gesehen. Sie ist ein Ort, der das Leben symbolisiert und ähnlich wie der Brunnen eine Verbindung zur Jenseitswelt herstellt. In der Märchenforschung hat die Quelle allerdings noch eine ganz andere Bedeutung: Dort gibt die jeweilige „Quelle“ an, woher ein Märchen stammt. Viele der heute erzählten klassischen Märchen haben ihre Quelle in der Märchensammlung „Kinder- und Hausmärchen“ (=KHM) der Gebrüder Grimm. Diese mussten freilich wiederum auf andere Quellen zurückgreifen. In vielen Fällen haben sie sich die Märchen von Märchenerzählerinnen erzählen lassen (Erzähler(in)).

R wie Rumpelstilzchen
Rumpelstilzchen (KHM 55) scheint so etwas wie ein Gnom oder ein Zwerg zu sein. Es lebt allein in einem tiefen Wald, hat magische Kräfte (es kann Stroh zu Gold spinnen) und das eher rätselhafte Bedürfnis nach den kleinen Habseligkeiten der armen Müllerstochter und ihrem ersten Kind. In heller Vorfreude tanzt es in der ®Nacht leichtsinnig um ein Feuer und sagt seinen berühmten Spruch auf (Zaubersprüche). Doch wird es dabei belauscht und dadurch namentlich enttarnt. Während das Rumpenstünzchen (eine ältere Version von den Gebrüdern Grimm) daraufhin auf einem Kochlöffel davonfliegt, reißt sich Rumpelstilzchen bei lebendigem Leibe entzwei. In einer der neuesten Variationen dieses Märchenstoffes, dem Hörspiel „Rumpelstilzchen schlägt zurück!“ (Peitz), ist sein Name der Deckname des abtrünnigen achten Zwerges der berühmten Sieben Zwerge (magische Helfer).

S wie Stiefmutter
Die Stiefmutter ist im Märchen fast immer böse. Man denke nur an das arme Aschenputtel. Sie gilt als die dunkle Seite, der Schatten der Mutter. Felix von Bonin weist in seinem Kleinen „Handlexikon der Märchensymbolik“ darauf hin, dass die Stiefmutter oft eine bedrohliche Figur ist und es somit eine gewisse Verwandtschaft zur Zauberin, Riesin oder Hexe gibt.

T wie Teelöffel
Teelöffel sind ein eher selteneres Märchenmotiv. Es gibt jedoch einen kleinen, aber feinen Märchenband von Christian Peitz mit fünf Märchen, bei denen Teelöffel eine bedeutende Rolle spielen. Diese Märchen spielen im Märchenreich Lugabugien. Im Anhang dieses kleinen Büchleins „Teelöffelmärchen – Rührende Geschichten aus Lugabugien“ findet sich eine kleine „Löffel-Philosophie“, die in pädagogischer Absicht zum märchenhaften Philosophieren mit und über Löffel anregt.

U wie unglaublich
Unglaubliches passiert im Märchen. Tote können wieder zum Leben erweckt werden, arme Menschen werden oft sehr reich und magische Gestalten wie Hexen, Feen oder Zwerge (Magische Helfer) können Naturgesetze außer Kraft setzen und die verschiedensten Wünsche erfüllen. Tiere und Gegenstände können sprechen, ja sogar in einem Frosch steckt mitunter ein verwunschener Prinz. Märchen erzählen einfach von fantastischen Dingen. Deshalb sagt man heutzutage oft: „Erzähl mir doch keine Märchen!“, wenn man dem Erzählten keinen Glauben schenken will. Doch darf man bei all den „Unglaublichkeiten“ nicht vergessen, dass Märchen trotz alledem tiefe bedeutungsvolle Wahrheiten vermitteln.

V wie Verwandlung
Ein Wesensmerkmal von Märchen ist die Verwandlung, manchmal ausgelöst durch eine Verwünschung oder Verzauberung (unglaublich). Zur Aufgabe des Märchenhelden gehört es dann, diesen „Fluch“ rückgängig zu machen. Häufig kommt es vor, dass Menschen in Tiere verwandelt werden. Der Froschkönig, der ein verwunschener Prinz ist, wird zurückverwandelt, indem die Prinzessin ihn an die Wand wirft. Dass in dem Wort Wand und Verwandlung derselbe Wortstamm steckt, ist also kein Zufall. Denn eine Wand hat immer zwei Seiten, die Verwandlung kennt zwei Seinszustände.

W wie Wolf
Der Wolf ist ein Symbol für das Triebhafte (Prinz). Der Wolf ist listig, aggressiv und stellt oft eine große Gefahr dar. Er verschlingt die Großmutter und Rotkäppchen, nachdem er das Mädchen überredet hat, vom Weg ab zu gehen und Blumen zu pflücken. Auch die sieben Geißlein (KHM 5) übertölpelt er mit List und Tücke. Der englische Philosoph Thomas Hobbes (1588-1679) sagte: „Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf“. Doch tatsächlich sind Wölfe zwar Raubtiere, aber nicht so grausam, wie sie häufig dargestellt werden. Seit dem 19. Jahrhundert gilt der Wolf in Nord- und Mitteldeutschland als ausgestorben – Menschenwerk! Erst seit den vergangenen zehn Jahren leben hierzulande wieder vereinzelt Wölfe.

Z wie Zahlen und Zaubersprüche
Zwei typische Wesensmerkmale von Märchen sind magische Zahlen und Zaubersprüche. Besonders hervorzuheben sind die Zahlen drei und sieben. Oft hat der Held, zum Beispiel der jüngste von drei Brüdern, genau drei Aufgaben zu erfüllen. Schneewittchen (KHM 53) wird von sieben Zwergen (magische Helfer) versorgt und der böse ®Wolf bedroht die sieben Geißlein (KHM 5). Auch Zaubersprüche, häufig in Reimform, begegnen uns oft. Aschenputtels magische Helferinnen, die Tauben, weisen dem Prinzen den Weg zur richtigen Frau, indem sie sagen: „Rucke di guck, rucke di guck, Blut ist im Schuck (Schuh)! Der Schuck ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.“ Aber nicht immer helfen die Zaubersprüche demjenigen, der sie spricht. Als Rumpelstilzchen nachts ums Feuer tanzt und singt: „Heute back ich, morgen brau ich,/ übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;/ ach, wie gut dass niemand weiß,/dass ich Rumpelstilzchen heiß!“, wird es von einem Boten der Königin belauscht. Daraufhin muss diese, weil sie nun seinen Namen kennt, ihr Versprechen nicht einlösen und sie darf ihr erstes Kind behalten.


Praxis

Über Märchen: Es war einmal....

Es heißt nicht ohne Grund, dass in den Märchen die Seele eines Volkes steckt. Legenden, Fabeln, Sagen, Schwänke, Lügen- oder Tiergeschichten: Märchen sind so vielgestaltig wie sie alt sind. Sie sind der überlieferte Schatz einer jeden Kultur. Erst durch die weltberühmte Sammlung der Brüder Grimm wurde die Bezeichnung Märchen für mündlich erzählte Geschichten populär und auch in andere Sprachen übernommen.

Märchenpersonal und Handlung
Sprechende Tiere und Pflanzen, Zwerge, Riesen, Hexen, Feen, Drachen und andere Fabelwesen gehören zum selbstverständlichen "Personal" von Märchen. Typisch für die Figuren ist, dass sie scharf kontrastiert sind: schön oder hässlich, gut oder böse, tapfer oder feige, schlau oder dümmlich. Ohne Verbindung zur Zeit verstehen sie es, zwischen Wirklichkeit und Zauberwelt zu wechseln.

Symbolische Zahlen, zum Beispiel die sieben (sieben Raben, Geißlein, Zwerge) oder die drei (drei Wünsche frei), und besondere Farben wie Gold prägen die Märchen. Märchen erzählen zumeist von der glücklichen Lösung eines Konfliktes. Ein Protagonist erlebt allerlei Abenteuer, Schicksalsschläge oder Läuterungen, um danach gestärkt daraus hervor zu gehen.

Es war einmal... Wurzeln des Märchens
In den schriftlichen Zeugnissen aller frühen Hochkulturen finden sich märchenhafte Züge. Das alte Ägypten war reich an Zauber- und Tiergeschichten. Das sumerische Gilgamesch-Epos, das vermutlich im 12. Jahrhundert vor Christus in Mesopotamien entstand und als älteste literarische Dichtung der Welt gilt, weist in vielen Passagen märchenhafte Formen auf. Die Epen des griechischen Dichters Homer und andere Sagen zeugen vom großen Reichtum an Märchen der alten Griechen. Indien wird eine vermittelnde Rolle zwischen den sehr alten Erzähltraditionen des Fernen Ostens und des Vorderen Orients zugeschrieben. Für die europäische Märchentradition waren die Beziehungen zum Orient, die über Byzanz und Nordafrika verliefen, von größter Bedeutung. Kreuzfahrer und Kaufleute, Pilger und Seefahrer brachten Stoff für Märchen mit nach Europa. Dort sorgten vor allem Spielleute für deren Verbreitung.

Märchen in Europa
Schon im 16. und 17. Jahrhundert schufen die Italiener Giovanni Straparola und Giovanni Battista Basile ganze Märchenzyklen. Die so genannten Feenmärchen waren im Frankreich des 17. Jahrhunderts sehr beliebt als Unterhaltung für den Adel. Ab 1704 erschloss die Übersetzung der "Geschichten aus 1001 Nacht" von Antoine Galland neue Märchenwelten. Bereits 1697 hatte Charles Perrault eine französische Märchensammlung vorgelegt, die im 18. Jahrhundert auch in Deutschland aufgenommen wurde. "Dornröschen", "Rotkäppchen" und "Der gestiefelte Kater" gehen nachweislich auf seine Sammlung zurück.

Die Brüder Grimm
Die deutschen Romantiker und die Brüder Jacob und Wilhelm Grimm erfassten den Reiz des mündlich überlieferten Erzählgutes. Sie erkannten darin die schöpferischen Kräfte eines Volkes - einen Kulturschatz, den es zu bewahren galt. Trotzdem rechneten die Brüder Grimm nicht mit einem wirtschaftlichen Erfolg, als sie die "Kinder- und Hausmärchen" 1812 und 1815 veröffentlichten. Für ihre Märchensammlung hatten sich die Brüder Märchen erzählen lassen und sie Wort für Wort festgehalten. Die Brüder Grimm weckten durch ihre Sammlung nicht nur das allgemeine Interesse an Märchen, sondern initiierten auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen. Neben der Märchensammlung wurde das "Grimmsche Deutsche Wörterbuch" das Lebenswerk der beiden Germanisten.

Die Psychoanalyse
Auch die Psychoanalyse, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand, interessierte sich für Märchen. Bedeutsam wurden die tiefenpsychologische Untersuchungen des österreichischen Nervenarztes Sigmund Freud zum Verhältnis von Märchen, Traum und Sexualtrieb.
Der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung und seine Schüler zogen aus Märchen und Mythen Erkenntnisse über die seelischen Grundkonzeptionen der Menschen einer Kultur.
In jüngster Zeit arbeiten vor allem Kindertherapeuten mit Märchen. Sie bearbeiten anhand der zauberhaften Figuren und Konstellationen verdrängte Erlebnisse und Traumata der Kinder.

Und wenn sie nicht gestorben sind... Märchen heute
Heute stellen Märchen ein Angebot unter vielen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur dar. Insofern ist ihre einstmals dominante Stellung gebrochen. Neue Märchen für Kinder werden zwar in großem Umfang geschrieben und verlegt, nach wissenschaftlichen Untersuchungen des bekannten amerikanischen Kinderpsycholgen Bruno Bettelheim mögen Kinder jedoch die alten Märchen viel lieber. Zumindest in Mitteleuropa gehören die Märchen der Brüder Grimm, Hans Christian Andersens, Wilhelm Hauffs und Ludwig Bechsteins immer noch zum Grundstein der Kinderliteratur.