2018

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Wie lernen wir – und wie entwickeln wir uns?

Auch das Lernen kann man lernen

© Picture-Factory/Fotolia

Der Leistungsdruck wächst. Manche Kinder haben Schwierigkeiten beim Lernen. Häufig ist die Ursache nicht mangelnde Begabung oder Aufmerksamkeit, sondern schlicht die falsche Lerntechnik. Oft helfen schon kleine Tricks, um den Kindern eine ganz andere Perspektive auf das Thema „Lernen“ zu ermöglichen.

In folgendem Artikel erfahren Sie ...

  • wie unser Gehirn die Flut der Informationen aufnimmt, sortiert und verarbeitet
  • welche wichtigen Voraussetzungen wir für erfolgreiches Lernen schaffen können
  • warum es wichtig ist, dass Ihrem Kind das Lernen Spaß macht

Das Gehirn: Ein Blick hinter die Stirn des Menschen

Warum fällt meinem Kind das Lernen so schwer? Wie kann ich meinem Kind das Lernen leichter machen? Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, sollten Sie einmal einen Blick hinter die Stirn des Menschen tun – einen Blick ins Gehirn. Wenn Sie wissen, wie das Gehirn arbeitet, dann können Sie auch besser verstehen, wie das mit dem Begreifen, Denken, Behalten und Handeln funktioniert, worum es beim Lernen eigentlich geht – und worauf es beim „Lernen lernen“ ankommt.

Unser Gehirn, diese „Denk- und Lernmaschine“, ist, wie der Nobelpreisträger John Eccles sagte, „der Kern des Geheimnisses Mensch“.

Bevor wir uns auf den Weg in das Innere der Gehirnwindungen machen, schauen wir uns zunächst einige „Äußerlichkeiten“ an. Im Durchschnitt wiegt das Gehirn bei einem Erwachsenen rund 1.500 bis 1.600 Gramm, das sind nur etwa 2% des Körpergewichts. Das Gewicht sagt allerdings nicht unbedingt etwas über Intelligenz und Entwicklungsmöglichkeiten aus. Denn dann wären Elefant und Wal wahre Intelligenzwunder. Ihre Gehirne sind mit 5.000 Gramm mehr als dreimal so schwer wie unser Denkzentrum. Auch einer der bedeutendsten Denker – Immanuel Kant – brachte es nur auf ein „Durchschnittsgehirn“ von knapp 1.600 Gramm.

Das Gehirn ist mit dem „Kabelsystem“ Rückenmark verbunden und bildet mit ihm zusammen die Kommando- und Steuerzentrale aller wichtigen Lebensvorgänge. Im Laufe der Geschichte über Millionen von Jahren hat sich das Gehirn schrittweise entwickelt. Es begann bei den niederen Lebewesen mit ein paar tausend Einzelzellen, die sich darauf spezialisierten, Informationen auf andere Zellen zu übertragen – die ersten Nervenzellen.

Aus diesem ersten „Minigehirn“ ist vor rund 1,5 Milliarden Jahren der älteste Teil unseres Gehirns entstanden, das Stammhirn. Es steuert alle grundlegenden Lebensfunktionen vollautomatisch, ohne unser bewusstes Zutun, z. B. das Atmen, die Kreislaufregulation, den Schlaf-Wach-Rhythmus, Reflexe und automatische Reaktionen. Das benachbarte Kleinhirn übernimmt die Koordination von Nachrichten aus den Sinnesorganen und der Großhirnrinde. Es stimmt unsere Bewegungsabläufe ab und hält uns zusammen mit dem Gleichgewichtssinn in der Balance. 500 Millionen Jahre nach der Entwicklung des Stammhirns bildete sich das Zwischenhirn aus. Hier sind viele wichtige Schaltstationen für weitere Lebensvorgänge und Gefühle vereint. So verknüpft es jeden von der Außenwelt kommenden Sinneseindruck mit einem Gefühl: mit Freude oder Angst, Lust oder Schmerz.

Vor 500.000 Jahren schließlich entstand das Großhirn. Es besteht aus zwei Großhirnhälften, die für unsere Denkvorgänge die Hauptrolle spielen. Diese zwei spiegelbildlichen Hälften tauschen über einen bleistiftdicken Nervenstrang Informationen aus. Im Großhirn sitzen Bewusstsein, Persönlichkeit und Wille. Hier werden alle wahrgenommenen Eindrücke verarbeitet, sodass wir kombinieren, wiedererkennen, uns erinnern, denken und vergessen können. Diese phantastischen Fähigkeiten ermöglichen das Lernen.

Der linken Hirnhälfte sind folgende Funktionen zugeordnet:

  • Logisches Denken
  • Arbeiten mit Zahlen, Begriffen und Mengen
  • Sprechen
  • Folgerichtiges und analytisches Vorgehen

Die rechte Hirnhälfte ist für folgende Funktionen zuständig:

  • Einsatz von Phantasie und Intuition
  • Ganzheitliches Denken
  • Raumorientierung
  • Künstlerische Fähigkeiten
  • Einsicht und Einbeziehen von Gefühlen und Empfindungen

Das bedeutet allerdings nicht, dass all das dort Wahrgenommene ausschließlich auch dort gespeichert und verarbeitet wird. Es gibt individuelle Varianten und Verknüpfungen. Unser Gehirn und seine Verschaltungen sind so komplex und besonders bei Kindern so variabel, dass z. B. Linkshändern kein größeres Risiko für Lernschwierigkeiten angedichtet werden sollte.

Die Welt der „grauen Zellen“

Wenn wir tiefer in diese Mikrowelt eindringen, stoßen wir auf die einzelnen Nervenzellen, ihre Verbindungen und Verdrahtungen: Die Windungen unseres Großhirns bestehen aus über 15 Milliarden der berühmten „grauen Zellen“. Eine astronomische Zahl.

Stellen Sie sich nun unser Nervensystem als ein weitverzweigtes Telefonnetz vor. Schaltzentrale ist das Gehirn, das Rückenmark ist die zentrale Leitungsbahn. Die aus vielen einzelnen Nervenzellen gebildeten Nervenfasern, die allesamt ins Rückenmark hinein- und wieder herausführen wie die feinen Äste eines Baumes, sind die einzelnen Telefonleitungen. Alle Fasern aus diesem Verbindungsnetz zusammengenommen bilden eine Strecke von 500.000 Kilometern Länge, länger als die Entfernung von der Erde zum Mond – und das in unserem Kopf!

Pro Sekunde gelangen etwa 10 Millionen Informationen in unser Gehirn – das sind rund 100 Billionen im Laufe des ganzen Lebens. Diese Eindrücke aus der Außenwelt werden über unsere Sinnessysteme vermittelt und mit „körpereigenen“ Empfindungen wie Freude oder Schmerz verbunden. Über unser „Telefonnetz“ aus Nervenzellen werden sie dann ans Gehirn gemeldet. All diese Nervenzellen übertragen – ähnlich wie beim richtigen Telefonnetz – elektrische Impulse. Dazu wird jede einzelne Zelle einer Leitung „nervös erregt“ oder „gereizt“ – oft auch viele Zellen gleichzeitig. Das erklärt, dass schon ein einzelner Klang, ein Wort, eine Erinnerung, eine Berührung unsere Aufmerksamkeit wecken, innere Bilder, Gedanken, Gefühle und Reaktionen aktivieren kann – und zwar alles im selben Moment.

Die Übertragung ist ein elektrischer Impuls. Der durch die Zelle fließende Strom ist ungefähr eine Million Mal schwächer als unser Haushaltsstrom. Aber selbst diese schwache elektrische Aktivität können wir heute messen und uns damit ein Bild von der Hirnreifung machen.

Zwischen den Nervenzellen sitzen Schaltstellen – die Synapsen. Sie funktionieren wie Schalter, die auf bestimmte Signale hin einen Kontakt herstellen oder unterbrechen. Etwa 500 Billionen solcher „Schalter“ sorgen dafür, dass wir gezielt denken, uns erinnern und bewusst handeln können.

Im Laufe unserer Entwicklung bilden sich bei jedem neuen Eindruck und jedem Lernschritt immer mehr Verbindungskabel und Schaltstellen zwischen den Nervenzellen aus. Dabei spielen sowohl die Erbanlage als auch die Umwelt – und das Zusammenspiel zwischen beiden – eine große Rolle. Dieses Zusammenspiel wird an den beiden folgenden Beispielen deutlich:

Lena hat durch ihre Eltern, die beide Musiker sind, eine besondere musikalische Begabung vererbt bekommen. Deshalb wird Lena aber nicht automatisch Konzertpianistin. Sie muss in frühen Entwicklungsphasen ihre Fähigkeiten entdecken und möglichst mit Freude viel üben, um die in ihr schlummernden Talente weiterzuentwickeln.

Ihre Freundin Susanne hat seit jeher Spaß an der Musik, und sie versucht sich jedes Mal, wenn sie bei Lena ist, am Klavier. In Susannes Familie gibt es weder Berufs- noch Hobbymusiker. Dennoch kann auch Susanne – ohne ererbte Talente – mit Freude und Fleiß musikalische Grundkenntnisse erlangen und mit Spaß ein Instrument spielen lernen.

Schlummernde Talente – wie bei Lena – entfalten sich nur dann, wenn man sie nicht schlummern lässt, sondern weckt, fördert und weiterentwickelt. Aber auch Kinder wie Susanne können in Bereichen etwas erreichen, in denen sie kein Talent in die Wiege gelegt bekommen haben. Wenn sie entsprechende Impulse, Anregungen und Entwicklungsangebote bekommen.

Unser Gehirn, und damit unsere Fähigkeiten, entwickeln sich ständig weiter. Deshalb können wir täglich Neues lernen – und darum können unsere Kinder auch das Lernen lernen.

Unsere Sinne sind unsere Antennen

Wir entwickeln uns ständig weiter – aber wie? Welche Eindrücke, die Tag für Tag auf uns einstürmen, behalten wir und fügen sie in unsere bisher „erarbeitete“ innere Welt ein? Wie lernen wir Buchstaben zu erkennen, sie zu benennen und zunächst Wörter und dann einen vollständigen Satz zu lesen und zu schreiben?

Wenn Sie diesen Text lesen können, dann deshalb, weil sich bei Ihnen der „Leseprozess“ automatisiert hat. Sie müssen nicht mehr jeden einzelnen Buchstaben analysieren und mühsam mit den vorhergehenden zusammenfügen. Sie erkennen mit einem Blick ganze Wörter und ganze Sätze, verbinden diese mit den Bedeutungsinhalten aus Ihrem Gedächtnis und „lernen“ so neue Zusammenhänge kennen.

Wenn Sie aber den Inhalt dieser Sätze in mehreren Wochen noch wissen möchten, müssen Sie Interesse daran haben (Lernmotivation) und es in Ihrem Langzeitgedächtnis abspeichern (Merkfähigkeit).

So geht es jedem Kind mit dem Lernen von neuen Dingen. Um etwas Neues zu lernen, brauchen wir neue Informationen. Diese Informationen erreichen uns über unsere Sinnessysteme, die Wahrnehmungen bzw. Eindrücke möglich machen und unser Gehirn mit Angeboten versorgen.

Wir haben mehrere Sinnessysteme – „Antennenanlagen“, die auf verschiedenen Kanälen und Frequenzen empfangen:

  • Körper- und Bewegungssinn
    Er führt dem Gehirn Informationen von Haut, Muskeln und Gelenken zu, damit unsere Bewegung optimal gesteuert werden kann.
  • Gleichgewichtssinn
    Er vermittelt uns Informationen über unsere Stellung im Raum. Er registriert z. B., ob wir auf dem Boden stehen, Kopfstand machen oder gerade hin und her schaukeln.
  • Durch das Hören registrieren wir Laute, Klänge und Sprache, erkennen diese wieder und fügen sie – etwa zu einem Lied – zusammen. Diese Hörwahrnehmung ist besonders wichtig beim Erlernen von Sprache. Wir wissen, dass Kleinkinder Sprache zunächst relativ perfekt verstehen und Laute voneinander unterscheiden können, ehe sie selbst Wörter und Sätze sinnvoll produzieren können.
  • Durch das Sehen verarbeiten wir vom Auge aufgenommene Seheindrücke. Wir erkennen nicht nur Dinge wieder, sondern können uns auch Aneinanderreihungen von Zeichen, wie etwa unsere gebräuchlichen Buchstaben, merken. Dieses „fotografische Gedächtnis“ erleichtert uns das Lesen.
  • Die beiden Sinnessysteme Schmecken und Riechen vernachlässigen wir an dieser Stelle, da sie in unserer Kultur beim Lernen nur eine untergeordnete Rolle spielen.

Die von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen werden über unsere Nervenbahnen dem Gehirn zugeleitet und miteinander in verschiedenen Hirnregionen verschaltet. Dieses System bildet die Grundlage für Kommunikation und damit auch für das Lernen.

Über unsere Sinnesorgane, wie Ohren, Augen und Haut, werden Eindrücke von außen aufgenommen und ins Gehirn geleitet. Hier werden sie gesammelt, sortiert und ausgewertet. Die verarbeiteten Informationen werden dann wieder durch Sprache, Gestik und Mimik nach außen abgegeben.

Wahrnehmen – Sortieren – Weiterleiten:  „Ordnung muss sein“

Damit unsere Sinnesorgane nicht alle Informationen gleichzeitig wahrnehmen, brauchen wir ein vorgeschaltetes Ordnungszentrum, das die verschiedenen Reizangebote filtert, bündelt und gewichtet. So versinken wir nicht im Chaos der „Datenschwemme“, sondern organisieren unsere Eindrücke und lagern sie in entsprechenden Schubladen ab.

Dieses sogenannte „gezielte Wahrnehmen einer äußeren Ordnung“ führt zu einer inneren Ordnung und damit zum Verstehen der Welt.

Das Wichtigste in Kürze

  • In unserem Gehirn werden Informationen wie in einer Schaltzentrale aufgenommen, sortiert und verarbeitet
  • Die wichtigste Voraussetzung für die Informationsverarbeitung im Gehirn ist eine gute Strukturierung und Ordnung. Beides kann man lernen.
  • Jeder Mensch lernt über unterschiedlich stark ausgeprägte Lernkanäle seiner Sinnesorgane. Welche Lernkanäle sich bei Ihrem Kind am besten ergänzen, können Sie leicht feststellen. So können Sie das Lernverhalten Ihres Kindes darauf abstimmen.
  • Die Lernmotivation ist wichtig, wenn wir Informationen lange behalten möchten. Nur, was wir gern lernen, lernen wir auch dauerhaft.

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:

Auch das Lernen kann man lernen
Was Sie tun können, damit Ihr Kind gut und gern lernt
Aust-Claus, Elisabeth, Hammer, Petra-Marina
Oberstebrink
ISBN: 9783934333529
19,95 €

Mehr dazu auf www.oberstebrink.de




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Zum Umgang mit Kindern mit besonderem Förderbedarf

Inklusive Erziehung in Krippe, Kita und Grundschule

© Ingo Bartussek/Fotolia

Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks

Inklusion ist eine der größten und wichtigsten Herausforderungen, vor denen Pädagogen und Pädagoginnen heute in der Praxis stehen. Pädagogisches Wirken beginnt bei der pädagogischen Fachkraft. Hilfreich für deren Arbeit sind Fallbeispiele, konkrete Tipps und Hilfestellungen zum Umgang mit Kindern mit besonderen Bedürfnissen, praxisgerecht, leicht verständlich und direkt umsetzbar.

Das Kind auf dem Weg seiner Selbstfindung einfühlend verstehen und begleiten

Das pädagogische Interesse in der Beziehungssituation

Nicht in der Beschleunigung der kindlichen Entwicklung durch Orientierung des Lernens am künftigen Erwachsenenleben besteht Korczaks pädagogisches Interesse. Das Interesse ist vielmehr darauf gerichtet, das Kind in der Beziehungssituation im Prozess der Entwicklung und Selbstfindung zu verstehen, zu begleiten, zu leiten und zu schützen. Da pädagogische Beziehungen Austauschprozesse zwischen Kindern und Erwachsenen sind, lernen ebenso die Erwachsenen von den Kindern. Bei dieser dialogisch gestalteten Erziehungssituation (Liegle 2013) darf es nicht um eine „Fastfood-Pädagogik“ gehen, die gleich die richtige Lösung parat hat und die Entwicklung durch gezieltes Eingreifen lenken will. Alle Anzeichen der Kindheitswissenschaften weisen darauf hin, dass ein Eingreifen von außen die schöpferischen Wachstumsprozesse des Kindes stören.

Diese achtsame Beziehungspädagogik pflegten die ersten Heilpädagogen und Heilpädagoginnen. (Buchka/Grimm/Klein 2002) Ihrem Handeln ging es um ein gutes Leben des behinderten, ausgegrenzten oder benachteiligten Kindes zusammen mit anderen Menschen. Damit entsprachen sie dem ursprünglichen Bedürfnis der Eltern, die ein bedingungsloses Ja zu ihrem Kind sagten. Das professionelle und elterliche „Ja“ zu jedem Menschenkind wird heute durch das Recht auf Inklusion in allen Lebensbereichen eingefordert: Unabhängig von bestimmten Merkmalen hat nun jedes Kind das unveräußerliche Recht, zusammen mit anderen Kindern zu leben, zu lernen, zu spielen und zu arbeiten. Das Menschenrecht auf Inklusion stellt die pädagogische Fachkraft vor konkrete Anforderungen: Sie hat jedem Kind seine individuelle Entwicklung zu ermöglichen, es bedürfnis- und bedarfsgerecht zu unterstützen und mit ihm die gemeinsame Lernsituationen zum Wohle aller Kinder der Gruppe zu gestalten. Gefragt ist ihre vertiefte pädagogische Kompetenz. Reflektierte inklusive Praxis pflegt die gute Erzieherin. Sie kann

  • sich das beobachtete Phänomen mithilfe von Kriterien – allein oder im Team – transparent machen,
  • sich die gemachten Erfahrungen, die im Erfahren selbst verankert sind, als authentische vergegenwärtigen,
  • ihre Erfahrungen in einer skeptischen Haltung gegenüber der eigenen Interpretationsleistung kritisch reflektieren und
  • durch weitere Erfahrungserkenntnisse anreichern – und auch neue Forschungen initiieren.

Ihre reflektierte Praxis oszilliert (bewegt sich) zwischen Nähe und Distanz, zwischen Empathie und Reflexion. Sie ist in einem nie endenden Prozess der methodischen Fragestellung aufgegeben. Es geht hier um Erkenntnisse und Einsichten durch Reflexion der Erfahrungen, in denen das Kind als Subjekt seines Seins und Werdens beobachtet wird und die ein Deuten und Verstehen und eine Pädagogik der „gemeinsamen Daseinsgestaltung“ (Kobi 2004, S. 74) ermöglichen. Hier stehen die Haltung und das pädagogische Handeln im Fokus und werden intersubjektiv geprüft und evaluiert (beurteilt, bewertet). Dieses Nachdenken ermöglicht im Verständnis des Schweizer (Heil‑)Pädagogen Paul Moor das Gegebene (das, was ist) zum Aufgegebenen (zu dem, was hier und heute werden kann) und letztlich auch zum Verheißenen (zu dem, was schon keimhaft angelegt ist und im Inneren des Kindes werden kann) zu wandeln.

Situationsorientiert begleiten und unterstützen

Die Kindertagesstätte – ein Ermöglichungsraum für alle Kinder

Diese professionelle Arbeit in der inklusiver werdenden Kindertageseinrichtung als „Ermöglichungsraum für alle Kinder“ (Klein 2012, S. 15 ff.) braucht die situationsorientiert handelnde pädagogische Fachkraft, die sich an den Bedürfnissen und Bedarfen des individuellen Kindes (mit seinen Kompetenzen und Ressourcen, mit seinen Problemen, Einschränkungen und Nöten) und an dem Bildungsgegenstand (mit seinen Werten und Normen) orientiert und dem Kind Wohlbefinden im menschlichen Mit- und Füreinander er-
möglicht. Diese individualisierte Erziehung, der große Schweizer Pädagoge und Sozialreformer Pestalozzi (1746 – 1827) nannte sie „Individualbesorgung“, erfolgt in der einfühlend zu gestaltenden Beziehungssituation, die ein wechselseitiges Lernen in den drei Aufgabenfeldern „Betreuung, Erziehung und Bildung“ ermöglicht. Christel Spitz-Güdden, Fachkraft für den von Armin Krenz begründeten situationsorientierten Ansatz, Referentin in der Aus- und Fortbildung und Herausgeberin des Praxishandbuches Elementarpädagogik, beschreibt diesen gesetzlich verankerten Auftrag folgender-
maßen:

Beim Betreuungsauftrag ist „treu sein“ geboten: Die pädagogische Fachkraft ist aufgefordert, den ihr anvertrauten Kindern ein Beziehungsangebot zu machen. Treu sein bedeutet hier, eine zuverlässige Partnerin zu sein, den Kindern wertschätzend, respektvoll und achtsam zu begegnen. Hier ermöglicht sie dem Kind, eine Bindung aufzubauen, die Voraussetzung für nachhaltige Bildung ist. Konkret im Alltag bedeutet das:

  • „Gemeinsam mit Kindern Situationen durchstehen, in denen die Kinder Hilfe und Beistand eines Erwachsenen brauchen,
  • Versprechen einhalten,
  • Kinder in Situationen nicht allein lassen, in denen sie sich einsam fühlen,
  • mit Kindern eine Freundschaft eingehen, sodass sie pädagogische Fachkräfte als Fürsprecher und als Bündnispartner erleben,
  • Anwalt des Kindes sein, zuverlässiger Ansprechpartner sein, sodass Kinder Sicherheit erleben,
  • eine Atmosphäre der Achtung und Wertschätzung als Basis allen Handelns (Umgangskultur) schaffen,
  • für feste, für die Kinder überschaubare Gruppen sorgen, da nur so Treue erlebt werden kann.“ (Spitz-Güdden 2017, S. 5)

Beim Bildungsauftrag darf nicht eine funktionsorientierte Wissensvermittlung an erster Stelle stehen, sondern vielmehr die Persönlichkeitsbildung, „die wiederum die Vernetzung von Fertigkeiten und Fähigkeiten mit Wissen sowie eine Verinnerlichung gelebter Verhaltensweisen darstellt.“ „[Bildung] geht einher mit Merkmalen wie Neugierde, Interesse, Motivation und Auseinandersetzung mit bekannten und unbekannten Dingen. Durch diese Auseinandersetzung mit der Welt und sich selbst wird das Erleben religiöser, sittlicher, künstlerischer und wissenschaftlicher Werte unterstützt.“ (ebd., S. 6)

Beim Erziehungsauftrag geht es darum, „Kinder im eigenverantwortlichen Handeln zu unterstützen, damit sie ein Teil der gesellschaftlichen Gemeinschaft werden. Dies beinhaltet die emotionalen und sozialen Aspekte der Persönlichkeitsbildung eines Kindes. Kindern zu ermöglichen, in eine Verantwortung für sich selbst und für die Gemeinschaft hineinzuwachsen, geht nur über Personen, die Kindern Vorbild und treue Partner sind“ (ebd. S. 6) – und Selbstbildung pflegen.

Selbstbildung der Erzieherin

Die Arbeit an sich selbst wird aber erst dann gelingen, wenn der beruflich Tätige in den Augen des Kindes seine „eigene Ohnmacht wahrnimmt“ (Korczak 1978, S. 103), bereit ist mit dem Kind zu fühlen und mit anderen Erwachsenen, mit Eltern, dem Team der Einrichtung und anderen Professionellen ein offenes Gespräch zum Wohle des Kindes führt. Auf diese Selbstbildung oder Selbsterziehung macht Paul Moor in seiner dritten heilpädagogischen Grundregel aufmerksam.

Der Selbsterziehung widmet Paul Moor das abschließende Kapitel seiner „Heilpädagogik“ (Moor 1999, S. 284–296), das in weiser Vorausschau den inklusionsorientierten Untertitel „Ein pädagogisches Lehrbuch“ trägt. Dem Kapitel seines heilpädagogischen Grundlagenwerkes stellt Moor ein Zitat von Martin Buber, dem Begründer des „Dialogischen Prinzips“, voran:

  • „Bei sich selbst beginnen, aber nicht bei sich enden;
  • von sich ausgehen, aber nicht auf sich abzielen;
  • sich erfassen, aber sich nicht mit sich befassen.“ (zitiert nach Moor 1999, S. 284)

Das Für- und Miteinander hat tiefe Wurzeln

„Wer auf der Linie bisheriger Trennungen zwischen dem Eigenen und Fremden weitermacht, produziert Immunverlust nicht nur für andere, sondern auch für sich selbst.“ (Sloterdijk 2009, S. 713)
Peter Sloterdijk, maßgebender Kulturkritiker der Gegenwart, weist in dem Zitat auf eine menschliche und soziale Gegebenheit hin, die zur gemeinsamen Übung der menschlichen Vernunft herausfordert.

Eva Kittay, Mutter der schwerbehinderten Tochter Sesha, nimmt bei Sesha „tiefgehende persönliche Beziehungen“ zu jenen Menschen wahr, die sie pflegen und begleiten. Die Qualität des Lebens und Lernens ihrer Tochter hängt von der Qualität der Beziehungen zu anderen Menschen ab. Sesha braucht Liebe und Wertschätzung, Zuwendung und Hilfe. Frau Kittay sieht in der Liebe, die aus den Beziehungen der Abhängigkeit hervorgeht, „eine reiche und unentbehrliche Quelle“, die „unser Menschsein ausmacht.“ (Kittay 2009, S. 156 ff.) Das Menschsein in der Liebe, oder – modern gesprochen – das solidarische Miteinander hat tiefe Wurzeln. Die Wurzeln sind im Menschen angelegt und weisen auf das Du hin. Diese dialogische Beziehungsgestaltung überwindet den Immunverlust und stärkt das leibliche und seelisch-geistige Wohlbefinden der Menschen. Das hat Sloterdijk im Auge.

Diesen Artikel haben wir aus folgendem Buch entnommen:

Inklusive Erziehung in der Krippe, Kita und Grundschule
Heilpädagogische Grundlagen und praktische Tipps im Geiste Janusz Korczaks
Klein, Prof.Dr. phil Ferdinand
Oberstebrink
ISBN: 9783963046018
19,95 €

Mehr dazu auf www.oberstebrink.de


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Praxisorientierte Materialien für den Einsatz an Grundschulen

Aufgabensammlung und Arbeitshefte zum kostenlosen Download

Die Platform Primas (Promoting Inquiry in Mathematics and Science Education Across Europe) bietet Unterrichtsmaterialien zum Konzept des forschenden Lernens für Lehrkräfte aller Schularten. Über eine Suchfunktion lassen sich die Aufgaben nach Schulart und Klasse filtern.
Hier geht’s direkt zu den Aufgaben für die Grundschule

Mit dabei sind gleich zwei Arbeitshefte aus dem Bereich Mathematik für die 3. und 4. Klasse als PDF zum Download. Das Arbeitsheft "Mathe braucht man im Leben" enthält zahlreiche Aufgaben, die aus dem Leben von Grundschulkindern stammen. Die Modellierungsaufgaben kennzeichnen sich, ganz im Sinne des forschend-entdeckenden Lernens, durch offene Fragestellungen und mehrere Lösungswege.
Hier geht’s zum direkten Download des Arbeitsheftes „Mathe braucht man im Leben“

 

Auf der Plattform mascil gibt es Aufgaben zum forschenden Lernen mit Bezug zur späteren Berufswelt. Die meisten Aufgaben richten sich an weiterführende Schulen. Für die Grundschule sind daher nur zwei Aufgaben aus den Bereichen Biologie und Mathematik geeignet. Diese beinhalten aber das komplette Arbeitsmaterial für zwei Schulstunden, inklusive Lehrerhandreichungen und Aufgaben für die Schüler als PDF zum Download. Hier geht’s direkt zu den Aufgaben für die Grundschule

In Zukunft soll es eine neue Online-Plattform geben, auf der hochwertige Materialien, die in den letzten zehn Jahren im Rahmen von Projekten entwickelt wurden, schnell und gut zu finden sind. Diese Sammlung wird Materialien für alle Schularten und alle Altersklassen umfassen. Alle Materialien wurden in Kooperation mit LehrerInnen gestaltet und von diesen in der Schulpraxis getestet. Ziel ist es den Unterricht und die Ausbildung der Lehrer praxisnäher zu gestalten. Dazu forschen MitarbeiterInnen des ICSE (International Centre for STEM Education) europaweit. Sie untersuchen unterschiedliche Unterrichtsansätze, erarbeiten Lehrerfortbildungskonzepte und entwickeln Unterrichtsmaterialien. Sie werden Lehrerfortbildungen anbieten und Online Konferenzen zwischen Klassen aus verschiedenen Ländern organisieren. Das ICSE wurde 2017 an der Pädagogischen Hochschule Freiburg gegründet und im Januar 2018 offiziell eingeweiht.
Mehr Informationen auf: icse.ph-freiburg.de